Der Name ist Programm. Grenzgänge handelt vom jungen Erwachsenen Bujar, der nach dem Tod seines Vaters und dem Zusammenbruch der politischen sowie seiner familiären Struktur aus Albanien flüchtet. Seine Flucht führt ihn zunächst nach Italien, wo er aber recht schnell feststellen muss, dass alle Träume, die er von Europa hatte, sprichwörtlich „Schäume“ sind. Niemand interessiert sich für das, was er kann oder will. Er wird als Ausländer gesehen, der niedere Arbeiten erledigen und dankbar dafür sein soll.
Nach einigen persönlichen Schicksalsschlägen führt ihn seine Suche nach einer neuen Heimat quer durch Europa, nach New York und zum Schluss nach Helsinki. Ohne zu viel verraten zu wollen sei gesagt, dass Bujars Ideale in einer Welt, die in starren Vorstellungen und Strukturen gefangen ist, nicht gefragt sind und ihn von einer Enttäuschung in die nächste führen, auch wenn er zeitweise Glück und Nähe erfahren darf.
Denn Bujar ist in jedem Sinne ein Grenzgänger. Er treibt durch verschiedenste Länder und Kontinente, ohne dass Grenzen, Kultur oder Nation ihm etwas bedeuten. Er ist mal Mann, mal Frau und liebt das Spiel mit den Möglichkeiten, die ihm diese Transgression eröffnet. Er reflektiert die gesamte Geschichte hindurch die Konstruiertheit von Geschlecht, Gesellschaft, Kultur etc. und ermöglicht es dem Leser durch seine unmittelbare, direkte und frische Art, sich leicht in seine Gedankenwelt einzufühlen und vor allem diese nachempfinden zu können.
Weitere Reflexionspunkte in diesem vielschichtigen Werk sind die Frage nach der Bedeutung des Todes, der ebenfalls in vielen Facetten wichtig für die Handlung ist, sowie insbesondere die Suche nach einem Ort, den man Heimat nennen kann.
Die Handlung wechselt oft die Zeitebenen, und der Leser muss Bujars Geschichte und die seiner Familie aus Rückblicken rekonstruieren. Dieses Stilmittel macht die Veränderungen, die Bujar erfährt, aber umso deutlicher. Die Geschichte ist trotz der außergewöhnlichen Hauptfigur sehr realistisch und mündet in einem Finale, das dem Leser einen nachdenklichen und dennoch traurig-schönen Abschluss bietet, der gleichzeitig all die Möglichkeiten Finnlands bzw. Europas, aber auch die Grenzen und Abgründe zeigt, die in der modernen westlichen Welt liegen.
Pajtim Statovci: Grenzgänge; Finn: Tiranan Sydän, übers. von Stefan Moster, 2021 Luchterhand. ISBN: 978-3-630-87641-2, 22 Euro. Eine Rezension in der Deutsch-Finnischen Rundschau von Daniel Wellinghausen.
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